Die Wahl in Israel ist eine Maskerade der Demokratie

Interview entnommen aus der Berliner Zeitung vom 1. November 2022

Haaretz-Kolumnist Levy

Israel wählt am Dienstag ein neues Parlament. Gideon Levy ist prominenter und umstrittener Kolumnist für die linksliberale israelische Zeitung Haaretz. Wir haben mit ihm gesprochen.

Hanno Hauenstein

Gideon Levy wurde 1953 in Tel Aviv als Sohn europäischer Geflüchteter vor dem NS-Regime geboren. Sein Vater stammte aus dem Sudetenland. Von 1978 bis 1982 war Levy Sprecher des damaligen Premierministers Shimon Peres. Seit 1986 berichtet er wöchentlich in der Kolumne „Zwielicht-Zone“ für die israelische Tageszeitung Haaretz über palästinensisches Leben unter israelischer Besatzung.

Hierfür gewann er mehrere Auszeichnungen, zuletzt den renommierten Sokolov-Preis. Levy schrieb unter anderem auch für internationale Zeitungen wie die New York Times. Levys Meinungen – insbesondere seine teils verteidigende Haltung gegenüber Benjamin Netanjahu – sind in Israel nicht unumstritten. Wir trafen Levy in der Redaktion von Haaretz, um über die am Dienstag stattfindende israelische Parlamentswahl zu sprechen.

Berliner Zeitung: Herr Levy, in Ihrer jüngsten Haaretz-Kolumne schreiben Sie, die jetzigen Wahlen seien nicht demokratisch. Können Sie das erklären?

Gideon Levy: Es ist eine Wahl für Weiße. Wir befinden uns in einem Land, in dem etwa 15 Millionen Menschen unter israelischer Herrschaft leben und circa fünf Millionen Menschen keine Grundrechte haben und an diesen Wahlen teilnehmen können. Wie lässt sich das mit Demokratie vereinbaren? Wenn es um die wichtigsten Frage in diesem Land geht – die Besatzungspolitik –, gibt es keinen wirklichen Unterschied zwischen rechter und linker Seite, auch wenn die Rhetorik minimal anders ist. Daran kann ich mich nicht beteiligen. Ganz gleich ob Netanjahu, Lapid oder Gantz die Wahlen gewinnt: Sie alle stehen für eine Fortsetzung der Besatzung. Dafür, Palästinenser nicht als gleichwertige Menschen zu behandeln. In diesem Sinn wird sich nichts grundlegend ändern.

Berliner Zeitung: Wenn Sie sagen, dass Sie sich nicht beteiligen: Heißt das, dass Sie selbst nicht wählen gehen?

Doch, doch, ich wähle. Wir alle tun so, als seien wir Teil einer Demokratie. Aber wenn Sie heute in die Westbank gehen, sehen Sie zwei Dörfer nebeneinander: hier eine Siedlung, dort ein palästinensisches Dorf, beide unter israelischer Herrschaft. Die Siedlung darf an den Wahlen teilnehmen, das palästinensische Dorf nicht. In diesem Sinn will ich schlicht daran erinnern, dass diese Wahlen eine Maskerade der Demokratie sind.

Berliner Zeitung: Der große Aufsteiger dieser Wahl ist Itamar Ben-Gvir, ein rechtsextremer Kandidat, der vor allem bei den Jungen viel Zuspruch findet. Was ist in Ihren Augen der Grund für diese Unterstützung?

Ben-Gvir ist extremer als Marine Le Pen in Frankreich oder die AfD in Deutschland. Er appelliert an junge Menschen, die wenig Interesse und noch weniger Wissen haben und jemanden wollen, der sie in ihren stärksten Gefühlen vertritt: Hass auf die Araber und nationale Rache. Ben-Gvir weiß diese Gefühle sehr gut zu manövrieren und auszudrücken. Er ist auch Mizrachi (ein aus der arabischen Welt stammender Jude, Anm. der Red.).  Bisher waren die führenden Köpfe der israelischen Rechten allesamt europäischstämmig. Die Kluft zwischen Mizrachi und Aschkenasi ist nach wie vor ein wichtiger Faktor in israelischer Soziologie und Politik. Zudem ist er ein street kid: emotional, authentisch, und er weiß, wie man mit Medien hantiert.

Berliner Zeitung: Spielt Ben-Gvir mit antielitären Stimmungen im Land?

Absolut. In gewisser Weise könnte man sagen, er ist ein Revolutionär. Nicht so, wie ich mir einen Revolutionär wünschte. Aber doch mit extremer Anziehungskraft. Für ihn zu stimmen, bedeutet, gegen das System zu stimmen.

Berliner Zeitung: Glauben Sie, israelische Medien haben ein Stück weit Verantwortung verspielt, indem sie Ben-Gvir durchgehend eine Plattform boten?

Sehen Sie, ich kann mich nicht als echten Demokraten bezeichnen und sagen: „Wenn es nicht meine Meinung ist, lasst es uns verbieten.“ Ben-Gvir ist die zentrale Geschichte dieser Wahl. Die Medien sollten ihm definitiv das Leben mit schwierigen Fragen schwerer machen. Aber das Phänomen geht nicht weg, nur weil man die Augen vor ihm verschließt. Wir haben es mit einer jungen Generation zu tun, die gewalttätig, ignorant und sehr rassistisch ist.

Berliner Zeitung: Sie haben in den letzten Jahrzehnten ausführlich über die Politik im Westjordanland berichtet. Wie hat sie sich verändert, seit die Benet/Lapid-Regierung an die Macht kam?

Die letzte Regierung trat mit der Hoffnung auf Veränderung an die Macht. Trotzdem war das letzte Jahr unter der Besatzung im Westjordanland und im Gazastreifen eines der schlimmsten überhaupt. Es gab mehr getötete Palästinenser als in den letzten 15 Jahren, es wurden mehr Häuser zerstört, Siedler sind gewalttätiger denn je. So gesehen war die letzte Regierung eine Katastrophe. Netanjahu war dagegen vergleichsweise vorsichtig. Ich will Netanjahu nicht loben, will aber betonen, dass die Unterschiede verschwindend gering sind und sicher nicht zugunsten der letzten Regierung ausfallen.

Berliner Zeitung: Sie sind eine wichtige Stimme im öffentlichen Diskurs in Israel. Sie waren eine der wenigen, im linken Spektrum vermutlich die einzige prominente Stimme, die Netanjahu gegen Korruptionsvorwürfe verteidigte. Können Sie Ihren Standpunkt erläutern?

Ich kann die Dämonisierung Netanjahus nicht ertragen. Ich werde ihn nie wählen. Aber die Linke in Israel, vor allem die zionistische Linke der Mitte, stand vor einem Vakuum, was Führung und Ideologie betrifft. Dies schien sie zu füllen zu versuchen, indem sie gegen Netanjahu ankämpfte. Ich kann bei diesem Spiel nicht mitmachen.

Berliner Zeitung: Vertrauen Sie denn dem Gericht im Prozess gegen Netanjahu?

Sicher. Der populistischen Kampagne gegen ihn traue ich jedenfalls nicht. Was bislang vorgebracht wurde, war beunruhigend, ob es kriminell war, kann ich nicht beurteilen. Das überlasse ich dem Gericht. 

Berliner Zeitung: Amnesty International veröffentlichte in diesem Jahr einen Bericht, in dem die israelische Besatzung – in gewissem Maß auch die Politik Israels, die sie ermöglicht – als Apartheid bezeichnet wird. Sie verteidigten den Bericht. Ist Ihre Position heute dieselbe?

Sicher. Solange Besatzung vorübergehend ist, handelt es sich nicht um Apartheid. Wenn man aber feststellt, dass sie ein dauerhaftes Phänomen ist, ohne Absicht, sie zu beenden, dann ist das Apartheid. Circa fünf Millionen Menschen leben hier unter ständiger Tyrannei.

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Gideon Levy (Foto: Hanno Hauenstein)

Zur Person

Gideon Levy wurde 1953 in Tel Aviv als Sohn europäischer Geflüchteter vor dem NS-Regime geboren. Sein Vater stammte aus dem Sudetenland. Von 1978 bis 1982 war Levy Sprecher des ehemaligen Premierministers Shimon Peres. Seit 1986 berichtet er wöchentlich in der Kolumne „Zwielicht-Zone“ für die israelische Tageszeitung Haaretz über palästinensisches Leben unter israelischer Besatzung. Hierfür gewann er mehrere Auszeichnungen, zuletzt den renommierten Sokolov-Preis. Hier ist Levy in der Redaktion von Haaretz im südlichen Teil Tel Avivs zu sehen.

Berliner Zeitung: Manche würden entgegnen: Ja, es gibt Menschenrechtsverletzungen seitens Israel, das ist schlimm. Aber wir wollen das nicht Apartheid nennen, um etwa keine historische Gleichwertigkeit mit der Situation in Südafrika zu suggerieren. – Inwieweit spielt die Terminologie in Ihren Augen eine Rolle?

Sie spielt eine sehr wichtige Rolle. Und überhaupt: Wie kann man eine Realität, in der von zwei nebeneinanderliegenden Dörfer eins an diesen Wahlen teilnehmen kann und das andere nicht – und das aus ethnischen Gründen – denn sonst definieren?

Berliner Zeitung: Im deutschen Kontext würden manche solch eine Haltung als antisemitisch bewerten.

Dies ist die größte Errungenschaft der israelischen Rhetorik der letzten zehn Jahre, jede Kritik an israelischer Politik als Antisemitismus zu kennzeichnen. In Deutschland ist das heute zu einer ernst zu nehmenden Frage der Meinungsfreiheit geworden.

Berliner Zeitung: Sie haben früher für Simon Peres gearbeitet. Gibt es heute jemanden in der israelischen Politik, der oder die in Ihren Augen eine ähnliche Rolle ausfüllt?

Nein, und ich bin froh, dass es so jemand nicht gibt. Peres ist ein perfektes Beispiel für die erwähnte Maskerade. Er war einer der Gründerväter des Siedlungsprojekts. Und dennoch wird er bis heute als Symbol für Frieden gesehen. Wie kann man Symbol für den Frieden sein, wenn man Menschen ihre Häuser wegnimmt? Dieser Widerspruch ist fester Bestandteil der zionistischen Linken. Peres war das schöne Gesicht Israels, das eine andere Realität verbarg.

Berliner Zeitung: Das heißt, Sie haben Ihre Position geändert?

Sicher, ich war 26, als ich für Peres arbeitete. Ich wurde im Lauf der Jahre radikaler, nachdem ich 35 Jahre lang über die israelische Besatzung berichtet habe. Damals war ich jung und naiv. Ich dachte, Peres sei ein echter Linker.

Berliner Zeitung: In Deutschland spricht man gern von der Zwei-Staaten-Lösung zur „Beendigung des Konflikts“. Andere wie der US-Kolumnist Peter Beinart argumentieren inzwischen, die einzige realistische Lösung für Israel/Palästina sei eine Ein-Staaten-Lösung. Wo stehen Sie in dieser Diskussion?

Die Frage ist nicht, wo ich stehe. Die Frage ist: Wo ist die Realität? Die Zwei-Staaten-Lösung war eine wunderbare Lösung, aber sie ist nicht mehr realisierbar. Mit bis zu 700.000 Siedlern im Westjordanland ist sie unmöglich geworden. Es ist sehr bequem für die EU, für Israel, für die Palästinensische Autonomiebehörde, für die Vereinigten Staaten und in gewisser Weise sogar für die Vereinten Nationen, zu sagen: „Wir haben eine Lösung, die wir gerade nicht anwenden, aber sie liegt bereit.“ Ich denke, dass der größte Feind des Friedens heute darin besteht, von der Zwei-Staaten-Lösung als Lösung zu sprechen. So wird ermöglicht, dass die Besatzung weitergeht. Viele Diplomaten, die ich getroffen habe, sind sich im Klaren, dass diese Art Rhetorik irreführend ist. Andererseits ist eine Ein-Staaten-Lösung eine radikale Idee. Sie bedeutet das Ende des Zionismus, das Ende Israels als jüdischer Staat. Für Europäer ist es schwer zu begreifen, dass es kaum eine andere Alternative gibt. Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Wollen wir echte Demokratie – oder wollen wir einen Apartheidstaat?

Berliner Zeitung: Wenn ich Sie richtig verstehe, sagen Sie, dass was Sie „echte Demokratie“ nennen, nicht mit dem jüdischen Charakter Israels vereinbar ist?

Wie kann ein jüdischer Staat demokratisch sein, wenn zwei Völker hier leben? Zur Hälfte Juden, zur Hälfte Palästinenser. Wie soll das jüdisch und demokratisch sein?

Berliner Zeitung: Sie glauben angesichts der fortschreitenden Verunmöglichung einer Zwei-Staaten-Lösung also nicht mehr an staatliche jüdische Selbstbestimmung in Israel?

Ich denke, Israel sollte eine säkulare Demokratie sein, für Palästinenser und Juden. Ich kenne nur zwei andere Staaten, die sich durch religiöse Kategorien definieren: Iran und Pakistan. Warum sollten wir diesem Modell folgen?

Berliner Zeitung: Setzen Sie Hoffnungen in die israelische Zivilgesellschaft?

Ich habe gar keine Hoffnungen in diesem Bereich.

Berliner Zeitung: Dabei gibt es hier doch viele Organisationen, einige sehr bekannte: Breaking the Silence, B’tselem, um nur ein paar zu nennen.

Diese Organisationen sind sehr mutig und engagiert. Doch sie sind in der öffentlichen Meinung delegitimiert und zahlenmäßig sehr klein. Israel wird nicht eines Tages aufwachen und sagen: Lasst uns die Besatzung beenden. Warum auch? Warum sollte sich jemand diese Mühe machen? Die Weltgemeinschaft hilft Israel derzeit dabei, eine Art Immunität aufrechtzuerhalten. Leider können weder Breaking the Silence noch B’tselem daran etwas Grundlegendes ändern.

Berliner Zeitung: Liest man Haaretz, merkt man, dass der mediale Diskurs über die von Ihnen angesprochenen Themen in Israel sehr frei und unverblümt abläuft.

Frei ja, aber auch sehr bequem. Leider sind die meisten Journalisten hier Konformisten. Sie beschäftigen sich lieber mit anderen Themen. Die meisten wollen sich der Wahrheit der Besatzung nicht stellen.

Berliner Zeitung: Vor Kurzem hat der UN-Menschenrechtsrat einen Bericht veröffentlicht, der die israelische Besatzung als illegal bezeichnete. Der Journalist Tilo Jung fragte die deutsche Regierung nach ihrer Haltung hierzu, eine Vertreterin wich der Frage aus. Was erwarten Sie von Deutschland?

Wenn Deutschland sich als Freund Israels versteht, sollte es Israel auch kritisieren. Derzeit gleicht der Umgang Deutschlands einem verantwortungslosen Umgang mit einem Süchtigen. Deutschland unterstützt den Süchtigen, indem es ihm immer mehr Drogen verschafft. Zudem, glaube ich, trägt Deutschland nicht nur eine Verantwortung für Juden, sondern auch indirekte Verantwortung für das Schicksal der Palästinenser. Wir alle wissen, dass es die Nakba ohne den Holocaust in der Form nicht gegeben hätte. Mein Vater wäre nie hierher gekommen, wäre Hitler in Deutschland nicht an die Macht gekommen. Er konnte nirgends anders hin. Israel war seine Rettung. Das war fantastisch. Aber es ging auch aufs Konto der Menschen, die vorher hier lebten.

Berliner Zeitung: Welches Ergebnis erhoffen Sie sich von den Wahlen?

Ich selbst werde für eine der palästinensisch geprägten Parteien wie Balad oder Chadash stimmen. Je stärker sie abschneiden, desto besser. Aber ich habe insgesamt sehr geringe Erwartungen.

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