Viertes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite

Das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (Entwurf vom 13. April 2021) soll am 21. April 2021 im Bundestag und am 22. April 2021 im Bundesrat verabschiedet werden.

Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) übte bereits umfangreiche Kritik an der dritten Fassung des Gesetzes vom November 2020.

„Besonders kritisch sieht ver.di die Neuregelung im Infektionsschutzgesetz, an die weitreichende Grundrechtseingriffe geknüpft werden können. […]

Auf der anderen Seite dürfen die Bekämpfungsmaßnahmen nicht so weit gehen, dass einzelne Betriebe und ganze Branchen in wirtschaftliche Existenznot geraten. […] Gleichwohl nehmen unter den Beschäftigten wirtschaftliche Existenzängste, psychische Belastungen und soziale Konflikte als mittelbare Folge der Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens zu. Die Herausforderung besteht darin, einerseits schweren Krankheitsverläufen in der Bevölkerung entgegenzuwirken und andererseits zu verhindern, dass die Eindämmungsmaßnahmen zu gesundheitlichen und sozialen Folgeschäden führen. […]

Während die Krankenhäuser in technischer Hinsicht gut auf die zweite Welle vorbereitet sind, drohen Engpässe vor allem beim Pflegepersonal.“

In einer zwölfseitigen Stellungnahme ist Folgendes zu lesen.

„Zu Nr. 17 (Einfügung eines § 28a IfSG)

Besonders kritisch sieht ver.di die geplante Neuregelung in § 28a Abs. 2 IfSG, womit der Schwellenwert von 50 bzw. 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner für das Ergreifen teils schwerwiegender Maßnahmen verstetigt werden soll. […] Problematisch ist daran einerseits, dass der Schwellenwert viel zu unbestimmt und beliebig ist, um die sich daran anknüpfenden weitreichenden Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen. Es besteht die Gefahr, dass Testungen willkürlich ausgeweitet oder eingeschränkt werden. So konnte in der Vergangenheit häufig eine behördliche Teststrategie beobachtet werden, wonach trotz niedriger Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) in der Bevölkerung umfangreich auch asymptomatische Personen getestet wurden. Dies führt jedoch selbst bei angenommener hoher Sensitivität und Spezifität der PCR-Tests regelmäßig dazu, dass die Befunde falsch positiv ausfallen können. Dieses Ergebnis ist jedoch höchst unbefriedigend, bilden die molekularbiologischen Testergebnisse doch die Grundlage für die bisweilen sehr eingriffsintensiven Bekämpfungsmaßnahmen.
[…]
Der Gesetzesentwurf versäumt, zwingend notwendig zwischen ländlichen Regionen mit geringerer Ansteckungsgefahr und städtischen Ballungsräumen mit erhöhtem Infektionsrisiko zu differenzieren. […]

Um das Personal in den Bereichen Krankenhäuser, Psychiatrien, Pflege-und Betreuungseinrichtungen vor Überlastung zu schützen, ist zunächst eine bedarfsgerechte Personalausstattung der effektivste Weg.“

Kommentare zum Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite

Tagesschau, 14. April 2021

„‚Wir setzen falsche Prioritäten‘“

Basis für das neue Infektionsschutzgesetz ist die Sieben-Tage-Inzidenz. Doch das ist ein schwerer Fehler, kritisiert Epidemiologe Krause im tagesschau.de-Interview – und schlägt vor, wie es besser gehen könnte.“

Krause nennt „einen alternativen Parameter: die Anzahl der intensivmedizinischen Neuaufnahmen binnen einer Woche pro 100.000 Einwohner der Herkunftsorte der Patienten“.

Oberhessische Presse, 14. April 2021

„Eine Wissenschaftler-Gruppe um Infektiologie-Professor Matthias Schrappe, ehemaliger Leiter des Marburger Universitäts-Klinikums, übt scharfe Kritik an dem von der Bundesregierung auf den Weg gebrachten ‚Notbremsengesetz‘. […]

Laut des Thesenpapiers […] sei die Neufassung des Infektions-, beziehungsweise Bevölkerungsschutzgesetzes verfassungsrechtlich und rechtspolitisch ‚hochproblematisch‘, und das nicht nur wegen der Schwellenwert-Einheitlichkeit und des Maßnahmen-Automatismus. Vielmehr sei das Gesetz grundsätzlich der ‚Ausgangspunkt für einen auf Permanenz gestellten Lockdown‘.

Denn: Durch die bereits laufende massive Ausweitung der Schnelltests würden mehr asymptomatische Infektionen gefunden. Diese seien früher nicht entdeckt worden, gingen daher nicht in die Meldungen positiver Testungen ein. Das jetzige zusätzliche Aufspüren asymptomatischer Infektionen führe dazu, dass die Zahl der positiven Testungen pro 100 000 Einwohner „deutlich ansteigen wird, ohne dass es zu einer realen Veränderung des Infektionsgeschehens gekommen ist“. […]

Bisher konnten Bürger vor Verwaltungsgerichten in den Ländern klagen, doch das ginge nun nicht mehr. Alleine das Bundesverfassungsgericht wäre zuständig, also könnten nur etwa Oppositionsparteien eine Normenkontrollklage anstrengen, oder Einzelbürger müssten nachweisen, dass sie oder er persönlich durch das Gesetz betroffen ist.

Die Kritik der Schrappe-Gruppe, die auch einen Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip erkennt: Das Bundesgesetz ‚entzieht einen großen Teil der zehn automatisierten Maßnahmen einer justiziellen Kontrolle‘ und mache so ‚eine geronnene Pandemiepolitik justizfest‘.“

Telepolis, 14. April 2021

„Ein neues Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags stärkt Kritikern eines Kabinettsentwurfs zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes den Rücken. Das siebenseitige Papier, das Telepolis exklusiv vorliegt […], verweist auf mehrere Gerichtsentscheide, die teils erhebliche Zweifel an der alleinigen Begründung von Grundrechtseinschränkungen durch einen Inzidenzwert äußern, auch wenn damit die Virusverbreitung gehemmt werden soll.

‚In der Rechtsprechung wurde das alleinige Abstellen auf Inzidenzwerte als Voraussetzung von Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie bereits öfter kritisiert‘, heißt es in dem Gutachten, das unmittelbar vor der geplanten Novelle des Infektionsschutzgesetzes verfasst worden war.“

der Freitag, Ausgabe 15/2021

„Die Bundes-Notbremse verspottet den Föderalismus – und bringt nichts

‚Wir raten dringend davon ab, bei der geplanten gesetzlichen Normierung die ,7-Tages-Inzidenz‘ als alleinige Bemessungsgrundlage für antipandemische Schutzmaßnahmen zu definieren‘, so Detlev Krüger, vor Christian Drosten 27 Jahre Charité-Chefvirologe, und Klaus Stöhr, der ehemalige SARS-Forschungskoordinator der Weltgesundheitsorganisation.

Ihre Alternative ist dieser Regierung wohl zu differenziert: ‚die tägliche Anzahl der COVID-bedingten intensivstationären Neuaufnahmen, differenziert nach Landkreis des Patientenwohnortes, Alter und Geschlecht mit Berücksichtigung diesbezüglicher zeitlicher Trends‘. Denn beim Infektionsgeschehen wie bei der Lage auf den Intensivstationen gibt es große regionale Unterschiede.

Nur eines ist nahezu überall gleich: die katastrophale Personalsituation in den Kliniken. Doch ebendiesem Grund für die drohende Überlastung sieht die Bundesregierung tatenlos zu. […]

Während Kindern eine Testpflicht auferlegt wird, Arbeitgebern aber nur eine ‚Testangebotspflicht‘, […] geht Merkel mit dem Vorschlaghammer auf Aerosoljagd: Lockdown ab Inzidenz 100, der Bund befiehlt.“

Berliner Zeitung, 11. April 2021

„Richter zu Infektionsschutzgesetz: Nichtachtung der Justiz und Dauer-Lockdown

Jens Gnisa, Richter und Ex-Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, ist ‚entsetzt‘ über die Pläne der Bundes. Er ruft dazu auf, dem Gesetz nicht zuzustimmen.“